rein theoretisch ist alles gut

Über den Wert von Arbeit und Menschen – Carolins Welt oder sind wir alle irre geworden?

Bei hohen Temperaturen fällt mein Blutdruck immer ins Bodenlose. Für mich ist der Sommer eine Herausforderung, wenn das Thermometer im Moloch Berlin-Mitte in Richtung 30 Grad steigt, fällt mir alles schwer ausser reden – oder schreiben. Der liebe Gott, das Universum, meine Eltern oder wer auch immer hat mich nicht nur mit einer Kreislaufschwäche, sondern mit Talent gesegnet, noch Durchhaltevermögen darauf gepackt und einen klugen Kopf auf mich geschraubt.

Rein theoretisch könnte ich bestimmt wahnsinnig viel Geld verdienen. Klappt halt nicht so seit ein paar Jahren. Meine Karriere hängt so durch wie mein Kreislauf. Ich nehme das inzwischen als Chance hin. Ich nutze meine freie Zeit, um Dinge zu tun für die ich früher, während meiner Vollbeschäftigung keine Zeit hatte – zum Beispiel zur Weiterbildung. Ich habe in mich investiert, ohne Hilfe vom Amt, weil ich es mir wert bin und ich dachte es ist zu früh um sich von Transferleistung zu Transferleistung zu hangeln.

Ich habe Freunde, die viel mehr arbeiten und viel mehr verdienen als ich – und einige die viel weniger arbeiten und viel mehr Geld haben als ich – manche haben Kinder, manche keine. Ist halt so. Viele Jahre hat mich dieses Ungleichgewicht der Verhältnisse und der Prosperität wahnsinnig beschäftigt. Ich wollte auch eine Eigentumswohnung, keine Geldsorgen, die Freiheit all das zu kaufen auf das ich Lust habe, wenn ich über den Wochenmarkt am Kollwitzplatz flaniere, ich war gewillt den Anforderungen und dem Leistungsanspruch unserer sozialen Marktwirtschaft genüge zu tun. Ich gehe nicht mehr auf den Wochenmarkt.

Ich habe viel versucht, um mehr Geld zu verdienen und viel gegeben. Ich habe mehr gearbeitet als ich laut Vertrag musste, weil ich eine engagierte Arbeitnehmerin bin und das Projekt es erforderte. Ich war total produktiv. Ich habe in meinen 5 Stunden im Büro so viel geschafft, wie Vollzeitkräfte. Hat trotzdem alles nichts genutzt. Ich wurde betriebsbedingt entlassen. Kann passieren.

Ich habe mich beworben immer wieder und überall, auch außerhalb von Berlin – und als das nichts genutzt hat, schließlich Jobs angenommen für die ich überqualifiziert bin, die aber verfügbar waren. Ich nahm befristete Verträge an. Ich hatte nicht nur einen Job, sondern Minijobs. Ich habe Hilfsarbeiten gemacht. Das alles hat mich irgendwie über Wasser gehalten, aber von dem entfernt und abgehalten was ich wirklich kann: Gute Texte schreiben und Menschen unterhalten und motivieren. Vermutlich könnte ich mir wirtschaftliche Unabhängigkeit erarbeiten, wenn ich mehr Zeit für meine Berufung hätte und daraus sogar einen Beruf machen.

Dieser Blog zum Beispiel ist ein Versuch. Er ist im besten Fall nicht nur ein Fenster nach draußen, sondern ein bunter Testballon, der an der Zimmerdecke hangelt – leider hat er nicht genug Luft, um durch das Fenster zu steigen und abzuheben.

Einmal war es fast soweit, da habe ich einen Treffer gelandet, mein Beitrag über Vereinbarkeit (Working Moms nerven? Warum Deutschland ein Problem hat und ich keinen Bock mehr) hat mir 65.000 Besucher in drei Tagen beschert. Kurzes Zwischenhoch. Kenne ich von meinem Blutdruck:

Immer wenn ich mich über etwas aufrege, katapultiert mein Blutdruck über die 90/70 Marke. Gestern zum Beispiel lag ich matt auf der Couch und nuckelte somnambul an einem Stück Wassermelone, als ich einen Kommentar unter einem Beitrag von Christine Finke (Mama arbeitet) las, der sich mit der Idee des gemeinschaftlichen Wohnens für Alleinerziehende beschäftigte. Eine Frau namens Carolin, die laut eigener Aussage Rechtsanwältin ist, 4 Kinder hat, alleinerziehend ist, und als Partnerin in einer Kanzlei für Steuerrecht arbeitet, kommentierte – und das gleich dreimal, und zwar so dass ich vor Empörung fast an meiner Wassermelone erstickt wäre. Ich las fassungslos welche abstrusen Vorstellungen jemand, der wahrscheinlich so alt ist wie ich, studiert hat und damit rein theoretisch einen Hauch humanistischer Grundbildung abbekommen haben müsste, im Schutz der Anonymität der Kommentarspalte von sich gab und noch schlimmer hat.

Carolin stellte die These auf, dass Twittern und etwas Bloggen keine Arbeit sei. Und schon gar nicht nützlich, da dies keine sozialversicherungspflichtige Arbeit sei, oder eine Tätigkeit, die gebraucht würde, so wie etwa Haare schneiden oder Brötchen verkaufen. Solche Menschen seien nützlich, Mama arbeitet solle einfach nach Magdeburg in den Plattenbau ziehen. Das wäre sozial. Und wer jetzt schon hohen Blutdruck hat, möge zum Blogger-Betablocker greifen.

Carolin war richtig in Fahrt: Sie rechnete Christine Finke im nächsten Kommentar vor, wieviel Zeit sie mit Twittern “verschwendet” und stellt in Frage, ob das Viertel in dem Christine mit ihrer Familie lebt, das richtige Umfeld für die Kinder sei, wo sowieso alle mehr Geld hätten. Dann zeigte Steuerexpertin Carolin auf wie Produktivität funktioniert: “Drucken Sie sich 20 Seiten leere Exceltabellen aus (nur Spalten und Zeilen) und schreiben Sie eine Woche lang rein, was Sie in 15 Minuten-Zeitrastern gemacht haben. Sie werden sehen, dass Sie extrem unproduktiv sind”. Und auch für das die Arbeit störende Familienleben hatte Carolin den ultimativen Produktivitäts-Tipp: Handy weg –  sie erklärt, dass ihre Kinder, wenn es einen Notfall in der Familie gibt die Sekretärin anrufen dürfen, da sie sonst raus sei aus ihren eigentlichen Gedanken, und schließt mit dem versöhnlichen Satz: “Aber das ist Ihr „way of life“. Nicht jeder ist zu etwas Großem auf der Welt.”

Spätestens in diesem Augenblick hatte ich vor Wut die Wassermelone durchgebissen (mit Schale).

Ich meine nur noch mal hier zum Mitlesen: Was ist das Bitteschön für eine abstruse Vorstellung von Arbeit und Anmaßung.

Ich seziere hier mal die Sätze, damit jeder die Tragweite erfasst, die hinter diesen Kommentaren lauert, bzw. durch das Netz wabert:

  1. Twittern und Bloggen sind keine Arbeit = Ergo verdienen Menschen, die Blogs betreiben oder Twittern auch keine faire Entlohnung, oder Geld für das was sie bieten? Aber das “kostenfreie” Angebot nehmen viele Leser und Besucher wie Carolin dankbar an, im Ausgleich hinterlassen sie dann solche Kommentare? Da scheint ja offenbar ein Missverständnis und Missverhältnis zu bestehen. Vielleicht sollten man mal laut über eine Art Blogger-GEZ nachdenken?
  2. Es gibt nützliche Tätigkeiten und unnütze = Wer legt das fest? Haare schneiden und Brötchen verkaufen sind in der Tat wichtige zu schlecht bezahlte Tätigkeiten, Pflege-oder Heilberufe haben das gleiche Problem, oder ErieherInnen – ihnen fehlt auch Anerkennung. Wieso richtet sich der Wert einer Arbeit nach dem vermeintlich größten (geldwerten) Nutzen für die Gesellschaft, und lässt der sich überhaupt objektiv erfassen. Ich brauche zum Beispiel nicht unbedingt Brötchen, aber ich will den Blog von Mama arbeitet lesen können beim Frühstück. Ich fahre auch kein Auto und verstehe nicht wieso ein Manager in der Automobilindustrie so viel verdient.
  3. Menschen mit weniger Geld gehören nicht ins gleiche Viertel wie die mit Geld = Einführung von Ghettos die Lösung aller Probleme? Excuse me are you nuts Carolin? Die Verdrängung von wirtschaftlich schwächeren Menschen in Problemkieze ist nicht hinzunehmen, sondern zu bekämpfen. Ich habe nichts gegen Magdeburg, aber wenn ich in Berlin-Mitte wohne, will ich nicht für eine bezahlbare Wohnung dorthin umziehen. Und hat Magdeburg verdient, dass dort nur Geringverdiener leben? Das ist doch volkswirtschaftlicher Nonsens.
  4. Kinder dürfen bei einem Notfall in der Familie die Sekretärin anrufen =  Alles Private wird der Produktivität untergeordnet? Wen rufen denn die Kinder der Sekretärin im Notfall an? Und was sind die “eigentlichen Gedanken eines Arbeitnehmers”, muss man alles ausblenden, um leisten zu können?  Diese absurde Trennung von Arbeit und Beruf funktioniert doch gar nicht mehr. Sie ist der Grund warum wir in Deutschland in Sachen Vereinbarkeit völlig hinterherhinken. Familie hat NICHT nur ausserhalb der 9 – 5 Arbeitszeiten etwas zu suchen, es sollte selbstverständlich sein, dass ein Arbeitnehmer Zeit für seine Familie braucht und haben muss – nicht nur in Notfällen. Ich kann nicht glauben, dass ausgerechnet Frauen so eine Haltung vertreten.
  5. Nicht jeder ist zu Großem berufen = Was macht die Bedeutung menschlicher Existenz aus, dass wir wirtschaftlich erfolgreich sind? Ist jemand wirkmächtig oder besonders produktiv, weil er in einer Exceltabelle erfassen kann was er geleistet hat? Ich bin ja mal gespannt was Steve Jobs zu so einer Idee gesagt hätte, oder Bill Gates. Deutschland hat übrigens nicht erst seit Twitter ein Produktivitätsproblem. Es gibt Wissenschaftler, die das darauf zurückführen, dass wir nicht genügend Innovationen schaffen. Tja. Innovation braucht Kreativität und die wiederum braucht Freiheit und Zeit. Wenn die darauf verwendet wird Exceltabellen zu führen, was bleibt denn dann noch? Ich hab mal in einer Agentur gearbeitet, da war der Chef überzeugt, dass man nur mit einer Software für Zeiterfassung produktiv arbeiten können. Es wurde viel Zeit investiert, Arbeitsschritte auf Projekte abzurechen. Die Kommunikation mit dem Kunden sollte nur die kalkulierten Stunden umfassen, das war allerdings je nach Entwicklung des Projekts unmöglich. Dann vergingen viele Minuten und manchmal Stunden, um Auswege aus diesem Dilemma zu finden, ohne das tatsächlich Arbeit am Projekt oder Kunden geleistet werden konnte. Tja große Ideen scheitern manchmal am wirklichen Leben.

Ich schließe dieses kleine Blutdruckzwischenhoch an meinem wohlverdienten Urlaubstag, den ich in der Jogginghose brainstormend auf der Couch verbringe, mit einem Plädoyer für mehr Müßiggang.

Leistung ist nicht nur Arbeit durch Zeit. Der Mensch ist an dieser Gleichung beteiligt, war er schon immer. Der braucht und hat ein Recht auf Muße. Große Ideen entstehen gerade durch vermeintliches Nichtstun und Freiheit im Denken. Blogs haben eine wichtige gesellschaftliche Funktion, vor allem wenn sie familienpolitische Themen beleuchten, davon gibt es zu wenige. Sie erreichen manchmal mehr als Verbände oder ergänzen deren Lobbyarbeit strategisch klug und sinnvoll. Bestes Beispiel ist der #UVjetzt oder der #muttertagswunsch

Familienpolitische Blogger leisten wertvolle Arbeit. Punkt.

PS:

Der digitale Wandel wird unser Verhältnis zur Arbeit sehr verändern. Vielleicht wird Carolin in 10 Jahren in der gleichen Situation sein wie viele qualifizierte Frauen = sie hat viel Zeit für nichts, weil ihr Beruf sich so verändert hat, dass sich ihre Arbeit nicht mehr rechnet und sie unproduktiv bzw. unattraktiv für die Kanzlei geworden ist. Aber Carolin ist doch PartnerIn? Tja: Vielleicht gibt es gar keine echten Kanzleien mehr – sondern nur noch digitale Steuerrechtsoasen? Was wird dann aus Carolin? Dann hat Carolin mal Zeit für Yoga, Psychohygiene oder die eigene persönliche Entwicklung – das scheint mir noch ein bisschen Luft in den entsprechenden Zeilen/Spalten der Exceltabelle zu sein, vielleicht geht sie in 10 Jahren zu dem Therapeuten bei dem ihre Kinder und ihre Sekretärin hoffentlich gemütlich auf der Couch liegen? Ich gönne es ihr von Herzen. Therapeuten rechnen Gott sei Dank nicht in 15 Minuten Schritten ab, und es ist sogar eine Kassenleistung, die alle Menschen – auch Sozialfälle, Anwälte und Blogger – in Anspruch nehmen dürfen.

PPS: #nohatespeech

PPPS: Liebe Liebenden: ich gehe einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nach, da in meinem humanistischen Spamfilter ganz viele wütende Menschen hängen, die denken ich sei unterbeschäftigt und nicht ausgelastet. Und auch hier wage ich wieder den friedlich gemeinten Einwurf direkt von der Yogamatte: Ist man denn nur beschäftigt, wenn man Sozialabgaben zahlt? Namasté und nix für ungut. Atmen.

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