rein theoretisch ist alles gut

Wut-Teller: Wenn Dir das Leben manchmal ganz besonders viel serviert

Letzte Woche war ich stinksauer. Ich saß in einem schicken vietnamesischen Restaurant gleich um die Ecke vom Kollwitzplatz. Es ist eins von diesen gastronomischen Gesamtkunstwerken: Das Essen ist wirklich gut, die Einrichtung ein Augenfest und die Gäste sind hip und schick. Madonna hat da mal gegessen, Quentin Tarantino auch (aber wo war der nicht essen als der damals in Berlin gedreht hat). Ich hab da auch mal gegessen. Ich aß dort gern und oft. Dann aß ich da leider lange Zeit nicht mehr. Aber vor kurzem war ein guter Tag. Ich hatte Zeit, Geld und Glück. Ich hatte sogar ganz viel Glück: Es war so warm, dass ich im Freien essen konnte.

Trotz der Mittagszeit war nix los: An einem Tisch saßen 3 Bloggerinnen mit Selfiestick und am Nachbartisch zwei still vor sich hinarbeitende Kreativschnösel. Ich ließ mich in froher Erwartung auf ein schönes ruhiges Mittagsmahl nieder. Kurz danach waren meine frohen Erwartungen allerdings wieder dahin. Statt feinsinniger Meditationsmusik mischte sich ein fetter Hip Hop Bass unter den Räucherstäbchenduft. Gleich ist es vorbei, beruhigte ich mich, der Kellner findet den Lautstärkeregler nicht? Zwei Minuten später: Mein Trommelfell wähnt sich mitten in einem Jugendhilfsprojekt in Kreuzkölln. Ich kombiniere: Chef nicht da = Personal dreht uff und durch. Während ich das denke durchströmt mich warmes Mitgefühl. Vielleicht hatten sie eine ganz harte Schicht und sind unterbezahlt? Entrechtete Küchensklaven womöglich, man hört ja so einiges? Ich öffne meinen Solar Plexus und verströme Mitmenschlichkeit – ganze 10 Minuten lang. Leider kommt kein entrechteter Dienstleister, um meine Bestellung aufzunehmen. Nach weiteren 5 Minuten ist es dann soweit: Jemand springt schwungvoll aus der Papier-Lampion-Disse:

Er ist sehr jung, trägt eine Hipsterbrille und Turnschuhe. Er wirft mir ein kurzes Hallo zu und platscht mir die Karte auf den Tisch. Oh Gott: Mein Extrem-Dienstleister-Frühwarnsytem gibt Alarm: Mein rechter kleiner Zeh zuckt unwirsch im Schuh. Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Nein ich sage nichts! Ich bin ja innerlich wahnsinnig gereift in den letzten 14 Monaten, deswegen ignoriere ich meinen Zeh. Ich bestelle grünen Tee für mich und meine hochsensiblen Gliedmaße. Der Dienstleister seufzt: “Grünen Tee führen wir schon lange nicht mehr”. Er zieht die Augenbraue hoch. Mein rechter kleiner Zeh flippt aus. Jetzt bin ich not amused. Am liebsten würde ich sagen:

“Hallo Hipster-Kellner ich war leider schon ewig nicht mehr hier. Ich bin überhaupt nicht auf dem laufenden. Ehrlich gesagt, bin ich sowas von raus!

Kannst Du bitte nett zu mir sein, mich verständnisvoll ansehen, so tun als kennst Du mich noch von früher,  freust Dich, dass es mich noch gibt und mir erklären:

Was um Gottes Willen mit diesem Ort des gastronomischen Friedens in meiner Abwesenheit passiert ist?”

Stattdessen sage ich mit piepsender ‘schon lange nicht nicht mehr Stammgast-Stimme’: “Was gibt es denn für Tee?” Der Hipster Kellner seufzt: “Chrysantheme, Rosenknospe, Hibiskus!”

Oh Gott, denke ich, gibt es nix normales? Ich piepse: “Ich nehme Chrysantheme”. Nach 12 Minuten kommt der Tee. Mein Zeh ist inzwischen fast durch den Schuh gerobbt. Der Kellner pfeffert die Teeschale auf den Tisch. Ich freue mich – zu früh: Es ist eine gelbliche Pfütze in der welke Blüten schwimmen. Ich möchte das nicht trinken, will ich sagen, und dabei mit der Faust auf den ethisch korrekt gezimmerten Tropenholztisch hauen. Der Hipster-Kellner ist aber schon wieder in der Lampion-Disse. Ich bin zu alt für den Scheiß, denke ich müde, und starre trübsinnig in die Porzellanschale. Ich seufze laut. Die Bloggerinnen kichern. Ich verzeihe Ihnen: Die Pfütze erinnert mich an den Tee, den ich als Kind mal meinen Kaninchen im Garten gemacht habe. In einem Blechnapf schwammen Löwenzahnblüten, Gras und Möhrenschalen. Ich hab Restaurant gespielt. Meine Kaninchen waren die Gäste. Ach holde, unschuldige Kindheit! Tja. Ich trinke tapfer aus der Blüten-Pfütze und proste meiner Jugend und den armen Kaninchen zu.

Kostet ganz schön viel dieses Chrysanthemen-Zeug. Vielleicht ist das ja gut für die Haut? Anti-Oxi-Irgendwas? Ich kann das auf gar keinen Fall zurückgehen lassen. Ob ich mir wenigstens Zucker bestellen kann? Nein, dann bin ich ganz raus. Und die Haut! Außerdem: Hier gibt es bestimmt keinen Zucker, sondern irgendein pulverisiertes Baumharz aus einem abgelegenen Tal in Nord-Vietnam? Wie auch immer: Ich kann das nicht trinken, weder mit noch ohne Zucker. Ich schiebe die Schale beiseite, und stelle mir einfach vor die Pfütze ist ne Tischdeko. Sehr schön. Wobei das Wasser könnte man auch mal wechseln. Halt! Ich bin hier Gast. Om.

Inzwischen hat die Musik Fluglärm-Klage-Lautstärke erreicht. Die Freiberufler verziehen sich genervt, die Bloggerinnen kichern und schießen das 13. Selfie. Und ich? Hallo ich bin auch noch da und ich habe Hunger! Ob man diese Chrysanthemen essen kann? Da kommt mein Essen. Die Schale platscht auf meinen Tisch. Noch ne Pfütze.”Danke”, piepse ich, ohne nach oben zu sehen. Wenn der Kellner noch mal mit der Augenbraue zuckt, ist meine ganze innerliche Reife verpufft. Ich konzentriere mich auf mein Essen. Der Rucola hat aber schon bessere Tage gesehen? Ich hebe einen Stengel vorsichtig mit dem Stäbchen hoch. Ach Gott hängt der durch. Kenne ich – armes Ding. Er tut mir leid. Am liebsten würde ich mit dem grünen Elend nach dem Kellner winken oder noch besser: Vielleicht treffe ich seine Hipster-Brille von hier aus? Kleiner böser Scherz. Und sowieso: Der Stengel ist zu welk zum Werfen. Die wissen schon, warum sie das so dekorieren und nicht anders.

Apropos warum! Warum ist das so? Warum nur. Wenn ich einmal essen gehe. Was ist denn bloß hier passiert in der Zwischenzeit. Während ich mich selbst bemitleide und mir in meinem Kopf wilde Geschichten ausdenke von vom Glück verlassenen Gastronomen und Frauen über 40, geschieht etwas: Plötzlich plätschert Meditationsmusik aus der Lampion-Disse. Vor dem Lokal hält im gleichen Augenblick ein fetter SUV. Aha der Chef kommt, denke ich leicht gehässig, und versuche meinen Rucola unauffällig in der Chrysanthemen-Pfütze zu entsorgen. Der Kellner schießt wie aus dem Nichts an meinen Tisch. Mir platscht der Rucola auf den Schoß. Der Hipster-Kellner ist plötzlich total devot und freundlich. Er fragt mich, ob alles recht ist. Ich überlege kurz womit ich anfangen soll, denn es ist ja soviel, was mir auf der Seele liegt, da ist er auch schon weg. Der Chef steigt wieder in seinen SUV. Bleib, will ich ihm hinterher schreien, wir müssen reden! Bitte ich bestelle auch noch mal was! Sogar noch mal Chrysanthemen-Tee. Zu spät. Er fährt weg. Nun ja. Aber irgendwann!

Der Rest von dem Essen war dann gar nicht so schlimm. Unter dem welken Rucola befand sich ein wohlschmeckendes Reisgericht. Es war wirklich gut: Ich konnte immerhin meinen Zeh beruhigen und mich selbst. Außerdem stellte ich beim Essen fest: Das was mich störte, war gar nicht so sehr der Kellner oder der welke Rucola. Ich habe meine angestaute Wut auf den Moment übertragen. Das ist nicht gut. Das Leben ist nicht immer gerecht. Manchmal kommt es ganz dick. Das Leben schwingt in die eine und die andere Richtung. Dabei bekommst Du die volle Breitseite. Rumms. Du fällst vielleicht runter vom Tisch des Lieblingslokals. Aber irgendwann ziehst Du Dich wieder hoch an der Tischkante – oder Dich hebt einer auf. Wie auch immer. In jedem Fall: Wenn es soweit ist, dann schau nicht immer unter den Tisch. Was kannst Du da schon finden? Welken Rucola? Eben! Wer braucht welken Rucola? Und vergleichen wie es früher war? Nein. Freue Dich, dass Du wieder da bist. Jetzt und hier. Vielleicht ist nicht alles wie gewohnt ok. Aber so ist das nun mal: Nur weil Du eine Weile still stehen musstest, bedeutet das nicht, dass der Rest der Welt auf Dich gewartet hat. Alles verändert sich. So ist das halt. Nur Chrysanthemen-Pfützen bleiben immer das was sie waren: Untrinkbar!

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