Im Jahre 2014 saß ich in einem Café in der Sonne, trank einen Kaffee und freute mich, dass ich gar nichts tun muss. Es war mitten in der Woche. Ich hatte einen Vormittag frei. Ich konnte Überstunden abfeiern. Sensationell in meiner Branche! Um Punkt 9 Uhr allerdings zuckten meine Finger schon wieder nach Beschäftigung. Damit ich länger von meinem Kaffee hatte, beschloss ich sie ein bisschen abzulenken. Ich blätterte fahrig durch ein Magazin. Auf einer der vorderen Seite stoppte ich. Es ging um den Krieg in Syrien. Oh Gott, dachte ich, und wollte schnell umblättern. Mein Finger weigerten sich, sie streichelten ein zartes Kindergesicht. Es war das Foto eines kleinen Jungen. Er hatte ungefähr das Alter meines Sohnes. Das Kind saß auf einer Tischplatte mitten in den Trümmern eines Cafés oder Ladens. Sein Oberkörper war nackt. Er hatte ein blutverschmiertes Gesicht, den Kopf hatte man ihm bandagiert. Er starrte mich an. Plötzlich wurde alles still um mich herum: Die Autos, die Vögel, das Stimmengewirr am Nachbartisch, das Zischen der Kaffeemaschine. Nichts war mehr da – außer dieses Kind. Die Augen waren groß vor Entsetzen. Ich werde dieses Bild niemals vergessen. Ich fing an zu weinen, das weiß ich noch. Ich wurde durch dieses Foto hineingezogen an einen furchtbaren Ort. Seit diesem Tag verfolge ich die Entwicklungen in Syrien. Ich versuche zu helfen. Am Anfang ging es mir wie vielen. Kurz nachdem ich dieses Foto gesehen hatte, hallte in meinem Kopf der Satz: “Ich bin so weit weg, ich habe keine Zeit und keine Mittel? Was kann ich schon tun”.
Inzwischen bin ich überzeugt: Ich kann und muss etwas tun, um den Menschen in Syrien zu helfen. Alles zählt und kommt an. Mit meinem bisschen Engagement fühlte ich mich lange Zeit ziemlich alleine. Veranstaltungen zum Thema Syrien waren von Leuten unter 70 nicht gerade gut besucht. Das Benefiz-Dinner einer Hilfsorganisation, an dem ich teilnahm, fand wenig Beachtung. Dann suchte ich zweimal via Facebook nach Sachspenden. Dafür gab es mehr Resonanz, aber ehrlich gesagt war es weniger als ich erwartet und erhofft hatte. Ich war irritiert – zumal mir beim aktuellen Spendenaufruf Kaerlighed, ein toller Blog mit einer Riesenreichweite, wahnsinnig geholfen hat. Offensichtlich hakt es irgendwie. Wieso eigentlich? Dieser Krieg dringt täglich über Facebook & Co zu uns. Menschen ertrinken auf der Flucht nach Europa. Wir teilen unser Entsetzen darüber – und das war es dann – mehr passiert nicht mehr. Unsere Aufmerksamkeit hängt längst wieder woanders: Instagram, Facebook und Co bieten uns kuschlige Nester in die wir uns flüchten können – 24 h am Tag. Was die Welt da draußen oder Menschen wirklich brauchen, können wir immer schwerer spüren oder geben. Dabei ist ‘Teilen’ durch Social Media eigentlich einfacher geworden.
Dank Facebook bin ich informiert, wo gerade akut Hilfe gebraucht wird. Wo dringend Kinderklamotten gesucht werden zum Beispiel (die bei mir und anderen im Keller vergeblich auf ein Comeback bei Ebay hoffen). Selbst wenn jemand gezielt nach diesen Sachen fragt, zögere ich bzw. brauche ganz schön lange bis ich in die Keller-Gänge komme. Warum? Weil wir leichter in unseren Profilen teilen, statt im echten Leben. Einen aktiven Beitrag leisten, heißt “ich poste schnell was”, ich gebe den Spendenaufruf weiter, oder drücke auf “teilnehmen”. Sharing ist caring! Leider hilft dieses Sharing bei Sachspenden nur bedingt. Herr Zuckerberg schickt keinen Praktikanten in den Keller und packt alles zusammen. Das müssen Du und ich leider selber tun (nein das kann man nicht in den Privatsphäre-Einstellungen ändern – glaub mir ich habe es versucht!). Wir sind ganz schön bequem geworden. Unser Engagement findet außerhalb von sozialen Netzwerken kaum noch statt. Es sei denn Attac oder Foodwatch schickt uns eine E-Mail mit einem Link zur Online-Petition. Alles andere ist total kompliziert und verstößt gegen gängige Wisch-und-Weg Verhaltensweisen. Sind wir wirklich seelenlose Zombies, die am Smartphone hängen und durchs digitale Zeitalter torkeln? NEIN! Es besteht durchaus Hoffnung. Für Dich, für mich und andere:
Mit großer Freude verfolge ich gerade wie sich Freiwillige für Flüchtlinge engagieren, die es bis nach Berlin geschafft haben. Wir helfen in Kleiderkammern, bringen Sachspenden zu Sammelpunkten (auch ich bin in den Keller gestiegen!), versorgen die Flüchtlige mit Essen oder organisieren temporäre Notunterkünfte, weil die staatliche Hilfe nur schleppend anläuft. Wir springen dort ein, wo Hilfe dringend gebraucht wird. Wir teilen wieder mehr und zeigen Gesicht – auch außerhalb von Facebook oder Instagram. Das ist ziemlich Retro, bringt aber ganz viel. Mir jedenfalls: Das letzte Mal, dass ich soviel Engagement gezeigt habe, war ich noch an der Uni. Ich blockierte mit meinem Vor-Yoga-Hintern erfolgreich eine riesige Kreuzung (bis ich von einem attraktiven Polizisten von der Fahrbahn getragen wurde). Sich im Netz zu solidarisieren und zu empören ist natürlich unverbindlicher, aber leider nicht genug (es macht auch weniger Spaß siehe Hintern und Kreuzung). Solange wir uns nur auf virtuelles Engagement verlassen, wird sich nichts von dem ändern, was uns erschüttert und traurig macht. Wir müssen wieder mehr teilen, und Anteil nehmen an der wirklichen Welt, die immer noch existiert, mit all Ihrem Schrecken und Ihrer Schönheit. Es gibt unzählige Projekte und Menschen, die uns brauchen.
Eine Freundin von mir engagiert sich zum Bespiel in einem Hilfsprojekt im Libanon. Die Organisation, Relief&Reconciliation for Syria, unterstützt syrische Kinder und deren Familien, die es bis in das Nachbarland geschafft haben. Sie versuchen den Flüchtlingen verlässliche Strukturen zu geben. Die Camp School und die Friedensarbeit von R&R werden aus privaten Spenden finanziert. Sie arbeiten dazu Konfessionsübergreifend mit örtlichen Behörden, Hilfsorganisationen und Gemeinden zusammen. Sie bringen Minderheiten und Gruppen an den Tisch, die sonst miteinander streiten. Sie leisten also einen Beitrag für die Zukunft im nahen Osten. Der Libanon ist ein kleines Land mit großen Problemen. Als Nachbarland Syriens wird er überrannt von Flüchtlingen. Die Einwohnerzahl hat sich seit Ausbruch des Krieges verdoppelt. Die syrischen Flüchtlinge lagern in unbeheizten Zelten oder Bauruinen. Internationale Gelder und Mittel für die Region wurden im letzten Jahr eher gekürzt. Das macht mich wütend. Diese zögerliche Politik hat dazu geführt, dass die Menschen aus Syrien immer weiter flüchten, um sich zu schützen. Sie verlassen den nahen Osten und suchen Schutz in Europa und dem Rest der Welt. Sie stehen vor unseren Türen und brauchen Hilfe.
Es gibt übrigens auch andere Menschen die Hilfe brauchen. Sozial benachteiligte Kinder in Berlin, die keine warme Kleidung für den Winter haben oder Zuwendung brauchen. Menschliches Elend gibt es in Berlin, im Rest der Republik und der ganzen Welt. Engagiert Euch! Teilt!!! Dieser Aufruf gilt übrigens auch für mich, weil ich das sehr gern zwischendurch vergesse, weil ich plötzlich viel zu tun habe, oder wieder mal laut denke was kann ich schon bewirken? Nur keine Panik: Ich werde nicht über Nacht zum weiblichen Franz von Assisi mutieren, meinen Besitz hergeben und in Armut leben. Aber irgendwas zwischen Oligarchentochter und Heiliger sollte für mich und Euch schon drin sein.
Im Anschluss ein Projekt, das mir am Herzen liegt, gern könnt Ihr in den Kommentaren unter diesem Beitrag über Projekte schreiben für die Ihr Euch engagiert:
- die Arche, ein Projekt für sozial benachteiligte Kinder hier in Berlin – mehr hier:
Und als Leseempfehlung und Engagement-Booster – ein schmales Bändchen für die U-Bahn:
- “Engagiert Euch!” – Stéphane Hessel im Gespräch mit Gilles Vanderpooten, aus dem Französischen von Michael Kogon. (Ullstein Verlag, Berlin. 61 S., 3,99 Euro)
Kommentare von Notyetaguru
Ein Wochenende in Worten:
Danke Falk!
Ein Wochenende in Worten:
Bitte meine Liebe und ich danke für Deine Worte!
Working Moms nerven? Warum Deutschland ein Problem hat und ich keinen Bock mehr!
Welche Ehre vielen Dank!
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