rein theoretisch ist alles gut

Don’t hurry be happy – warum flotte Hasen nicht immer als erstes ins Ziel kommen müssen

Kürzlich war mein gerade wieder aufblühendes Leben fast schon wieder vorbei! Ich fuhr durch eine schattige Straße in Prenzlauer Berg. Dort gilt rechts vor links. Ich nehme das auch als Radfahrerin total ernst. Mehr noch: Ich liebe “Rechts vor Links”, denn wenn man diese einfache Regel beherzigt, flutscht es. Diese Straßen-Verkehrs-Regel kann man übrigens auch auf das Leben übertragen: Du musst nicht immer mit großem Tempo oder als Erster irgendwo durchkommen, um gut im Leben an- und voranzukommen. Manchmal ist es klüger und besser, sich eine Weile zurückzunehmen – energetisch und überhaupt.

Zurück zu meiner schattigen Straße in Prenzlauer Berg: Ich stoppte, weil ich einem Autofahrer seine Vorfahrt gewährte. In diesem Augenblick brauste eine flotte Vespa heran. Sie kam kurz hinter mir zum Stehen, dabei knatterte sie bedrohlich (hätte mir zu denken geben sollen!). Der Autofahrer bog comme il faut in die Straße ein, und bedankte sich mit einem Kopfnicken bei mir. Ich fuhr wieder los, im gleichen Augenblick schoss der Rollerfahrer unvermittelt links an mir vorbei. Er hatte es offenbar sehr eilig: Mit Briefmarkenabstand zog er vor mir nach rechts und bog in die Straße ein. Ich bremste und fiel fast vom Rad.

Glücklicherweise stürzte ich nicht auf die Straße. Ich fing meinen Sturz mit meinem linken Fuß ab. Ich balancierte quasi für einen Moment mit dem Rad auf dem linken großen Zeh. Ein erhabenes Gefühl: Unglaublich was der Körper durch Yoga alles kann? Soweit so schön! Leider brach mir bei meiner zirkusreifen Nummer ein Zehennagel ab. Die Sache mit dem Nagel war ziemlich übel: Ich hatte mir die Fußnägel am Abend zuvor erst lackiert! Noch dazu mit dem letzten Rest meines Lieblingsfarbtons, der seit diesem Sommer vom Markt genommen wurde. Grrr!!!! Ich litt doppelt und brüllte ein “GEHT’S NOCH???” hinter der Vespa her. Dann humpelte ich leicht fassungslos auf den Bürgersteig. Gerade als ich wieder aufsteigen wollte, sah ich, dass der eilige Vespafahrer nicht weit gekommen war.

Er parkte seinen Roller vor einem Haus gleich hinter der Kurve. Danke! Ich schob mein Rad entschlossen zu ihm rüber. Mein Instinkt und meine Erfahrung sagten mir, dass das jetzt das absolut richtige sei: Ich sollte den Stier bei den Hörnern bzw. am Helm packen (posttraumatischen Stress bewältigt man in Prenzlauer Berg sowieso besser gleich und zwar mit allen Beteiligten, weiß Gott wo man sich noch mal trifft).

Dann stand ich vor ihm: “Entschuldigen Sie bitte, aber Sie haben mich gerade fast vom Rad geholt!” Der Vespafahrer schaute betroffen und murmelte: “Sie haben so lange gewartet, der Autofahrer war schon längst um die Kurve, da musste ich losfahren”. Ich konterte: “Es waren exakt 14 Sekunden bis ich wieder angefahren bin”. Daraufhin schaute er noch betroffenener (wahrscheinlich dachte er ich bin auf dem Weg zu meiner Zwangsneurotiker-Selbsthilfegruppe?). Er entschuldigte sich schließlich bei mir. Ich vergab ihm großherzig und stieg leicht zickig auf mein Rad (gern hätte ich ihm noch meinen abgebrochenen Fußnagel unter die Nase gerieben but we are in Prenzlauer Berg Honey = make peace not war = Mist!).

Diese schöne Geschichte ist mir heute wieder eingefallen. Ich wurde nämlich wieder fast vom Rad geholt. Gegen 10 Uhr wartete ich rücksichtsvoll an einer Kreuzung in der Friedrichstraße. Ein Lastwagenfahrer hatte sich beim Wenden verschätzt und blockierte kurz die Fahrbahn. Er rangierte mit hochrotem Kopf, während ein Hupgewitter losbrach. Alle Regierungsbeamten des mittleren bis gehobenen Dienstes wollten ganz eilig an den Schreibtisch. Ich war entspannt. Den Bruchteil einer Sekunde überlegte ich, ob ich vorbeifahren soll, aber mein Instinkt sagte mir: “Warte einfach!”. Das war auch gut so, denn in diesem Augenblick schoss ein eiliger Rennradfahrer von hinten an mir vorbei. Ein Autofahrer, hatte auch keine Zeit und die gleiche kluge Idee – allerdings in der Gegenrichtung. Während sich die beiden Herren fast ins Jenseits beförderten, und dabei wild diskutierten, wer der größere Verkehrsversager sei, fuhr ich an beiden fröhlich winkend vorbei.

Ich hatte dafür alle Zeit der Welt. Ich bedankte mich freundlich bei dem LKW-Fahrer, der das ermöglicht hatte. Er nickte würdevoll zurück. Wieder so ein erhabener Moment: Ganz Mitte stand still und ich bin mittendrin. Ich holte Luft. Om. All dies dauerte gerade mal 56 Sekunden! Ich weiß das so genau, weil ich manchmal zähle (nein ich bin nicht in der Zwangsneurotiker Selbsthilfegruppe – ich schwöre). Das Zählen hilft mir einfach: Ich habe die Angewohnheit, viele Dinge viel zu schnell zu erledigen

Sehr lange raste ich durch mein Leben. Solange Du nicht übermäßig viel zu tun hast, und Du ganz viel Energie hast, ist das ja nicht weiter schlimm. Schwierig wird es erst, wenn Du energetisch auf dem letzten Loch pfeifst: Weil Du Dich zum wiederholten Male durch eine 60 Stunden Woche wuppst, dabei noch ein süßes Kind auf der Hüfte wippst oder noch 3 – 4 andere Sachen erledigen mußt. Wenn dieser Moment ein- oder mehrmals gekommen ist, sollte man das Tempo drosseln. Entschleunigung statt Überholspur heißt es dann! Mir wurde dabei von oben etwas geholfen. Ich hatte weniger zu tun und konnte üben.

Inzwischen nimmt mein Leben wieder Fahrt auf. Nach einer Weile merkte ich allerdings, dass ich schon wieder in alte Muster und Tempi falle. Alles umsonst und wie vorher? NEIN! Jedes Mal wenn das passiert, sage ich innerlich laut STOPP und ich zähle. Das hilft mir total. Ich merke, wie erstaunlich kurz ewiges Warten in der Realität ist. An einer Kreuzung zu warten, um einem unerfahrenen Lastwagenfahrer zu gestatten, in Würde um die Kurve zu kommen dauert: Schlappe 56 Sekunden. Meine kleine Geschichte soll Euch ermutigen, weniger schnell durch den Alltag zu rasen. Lasst anderen die Vorfahrt. Es bringt Euch mehr, nicht überall der Erste sein zu wollen. Nehmt das Tempo raus und macht Euch bewusst, wie lange bestimmte Dinge wirklich dauern. In 9 von 10 Fällen werdet Ihr feststellen: Soviel Zeit kannst Du Dir und anderen gönnen. Und wer jetzt immer noch skeptisch ist, obwohl ich meinen posttraumatischen Stress mit ihm geteilt habe: Ich sage nur Hase und Igel! Hallo??? Genau!

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