Weihnachten war sehr besinnlich. Das war gar nicht so vorgesehen, es hat sich einfach so ergeben. Statt großer Völlerei habe ich mich mit meinem Nachwuchs zuhause eingeigelt. Wir haben etwas Besonderes gegessen, das was es immer gibt, solange ich mich erinnern kann: Königinpasteten mit Ragout fin. Meine Mutter hat das vorbereitet, und noch einen Eimer Schokoladenpudding mitgebracht – mein Kind und ich haben die Vorspeise gekocht. Ein Maronensüppchen.
Gibt es hier jetzt endlich mal Rezepte? Wie in jedem normalen Blog?
Nein, es gibt wichtigeres als Essen, und ehrlich gesagt: kann ich noch nicht mal mehr Ragout fin schreiben, ohne augenblickliches Völlegefühl. Meine Mutter kocht nämlich bei solchen Gelegenheiten immer für die Familie, die wir mal waren. Das ist ganz schön viel für mich. Ich schweife wieder ab. Zurück zu mir und meiner verspäteten Weihnachtsbotschaft:
Ich war mir dieses Mal selbst genug und gut. Fast jedenfalls.
Weihnachten 4.0: Twitter, Facebook und Essen
Anstatt 24 h zu essen, und Familienaufstellungs-Selfies zu machen, bin ich vom rechten Weg abgekommen. Ich war nämlich einmal heimlich im Internet. Und ich war offenbar nicht allein: ein Chefredakteur hat den Geist der Weihnacht nach der Christmette in die Welt getragen:
“Wer soll eigentlich noch freiwillig in eine Christmette gehen, wenn er am Ende der Predigt denkt, er hat einen Abend bei den
#Jusos bzw. der Grünen Jugend verbracht?” twitterte Ulf Poschardt.
Das hat kollektives Aufstoßen verursacht. Auch bei mir. Der Tweet kam mir sofort quer und hoch. Ich hätte den Geist der Weihnacht fast auf mein Smartphone erbrochen. Meine hart errungene Besinnlichkeit war versaut?
Ochse, Esel, Kind: egal – Hauptsache Weihrauch!
Im ersten Moment wollte ich seinen Tweet teilen, und einen saftigen Kommentar drüber setzen, denn ich fand diesen Satz so unsäglich und unverschämt. Dann hab ich mich besonnen. Ist ja ein ganz besonderes Fest im Jahr. Und ich feiere es jetzt schon zum 46. Male.
Ich starrte 5 Minuten auf unsere Weihnachtskrippe, wo Maria seit mehreren Jahren fehlt, und der Ochse aufgrund zweier abgebrochener Hörner aussieht, wie eine Kuh mit Erschöpfungsdepression. Ich erinnerte mich an meinen letzten Besuch in einer Christmette. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht mehr, wo das war.
Aber Weihrauch gab es garantiert, und einen unglaublich großen Tannenbaum, Musik, und wenn es hier in meinem Kiez war, dann saßen gut gekleidete Menschen auf harten Bänken, und erleichterten ihr schlechtes Gewissen in den Klingelbeutel. Kinder brüllten bestimmt auch. Viele Kinder. Ganz viele Kinder. Zu viele müde Kinder.
Warum Ulis heute weiter kommen als Jesus
Ich schweife wieder ab. Zurück zu meiner Botschaft:
Gehet hin in Frieden oder so heißt es ja irgendwann am Schluß des Gottesdienstes – und an Weihnachten kommt oft noch was mit Licht, was man nach Draußen tragen soll. Das finde ich sehr schön, und so zeitgemäß, weil man ja heute wichtige Botschaften rasend schnell verbreiten kann. Der einzelne Mensch hat mehr Reichweite, als sich Gott das jemals für jeden gewünscht hat (siehe U.)
Was meine ich damit?
Würde Jesus heutzutage übers Wasser gehen, dann hat er hoffentlich ein Smartphone dabei (und einen Selfiestick?). Wobei er wahrscheinlich gar nicht soweit kommen würde, weil er nicht genug Follower hat, bzw. nicht mehr 32 Jahre brauchen, bis er öffentlich an Kreuz genagelt wird.
Denn er tut von Geburt an das Falsche: zu viel Gutes. Er ist kein Arsch. Das ist ein Problem.
Er praktiziert Nächstenliebe und andere Dinge, die man mittlerweile mit links-versifftem Gutmenschentum verbindet: Barmherzigkeit, Brüderlichkeit, Wunderheilungen von Pestkranken.
Das bringt alles nix mehr heutzutage. Nicht mal organische Reichweite bei Facebook, es sei denn du postest ein schreckliches Foto dazu, Bewegtbilder wären natürlich noch besser. Aber Drohnen über diesem See in Palästina z.B. wo der übers Wasser gelaufen ist, das geht ja auch nicht mehr alles so einfach.
Tja.
Wenn Jesus von Nazareth Werbung für Turnschuhe machen würde? Das wäre interessant, denn der geht ja sonst barfuß oder in Sandalen übers Wasser so weit überliefert?
Bei Twitter macht der keinen Stich.
Seine Sprüche? Come on : „Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.“ das bringt höchstens ein Herz vom Vatikan (aus Mitleid weil Weihnachten ist) – und der Ulf Poschardt retweetet das (und kommentiert OH MEIN GOTT!).
Der Algorithmus des Schlechten
In unserer Welt existiert leider der Algorithmus des Schlechten. Den gab es schon lange vor Facebook und Twitter.
Aber damit wird es richtig schlimm. Inzwischen wird derjenige gehört, der am lautesten brüllt oder das Unerhörte sagt: Entwertung, böse Ironie und Ablehnung sind nach wie vor die besten Mittel um Aufmerksamkeit zu bekommen, und wichtige Botschaften zu verbreiten. Im digitalen Zeitalter ist das eine Herausforderung für das Gute:
Clevere Kommunikationsprofis halten ihren Mitmenschen die glatt rasierten Wangen hin, nachdem sie diese im dazu geeigneten Medium aufgeblasen haben, und zur Unzeit Sätze, die den gesellschaftlichen Mehrwert der Beulenpest haben, ins Universum senden.
Es gibt Menschen, die vertragen das nicht, die sitzen menschlich enttäuscht unterm Weihnachtsbaum und schämen sich fremd (für negative Gedanken wie: Was für ein Vo ……. n! Diese Verachtung. Diese Rücksichtslosigkeit, dieses sich Lustigmachen auf Kosten anderer. Das ist kein Humor, das ist Scheiße. Ich hoffe jemand pinkelt ihm auf die Sitze seiner Bonzenkarre. ) oder denken: Wieso hab ich überhaupt noch Leben in diese Welt geboren? Weihnachten ist ja eigentlich das Fest der Hoffnung. Wie auch immer:
Neulich Abend bei den Grünen und den Jusos
Zum Glück kann ich inzwischen meditieren. Ich atmete ein und aus. Half nichts. Zuviel Ragout fin und Wortwahnsinn: Ich bin ja auf dem Twitterprofil eines Mannes, der mit der Gießkanne Provokationen ins Universum schüttet.
Wieso regt mich das auf? Wieso trifft mich dieser Satz mit der Christmette? Weil er gemein ist? Ist er das überhaupt?
Ich lese nochmal:
“Wer soll eigentlich noch freiwillig in eine Christmette gehen, wenn er am Ende der Predigt denkt, er hat einen Abend bei den
#Jusos bzw. der Grünen Jugend verbracht?”
Ich war noch nie bei den Jusos und der Grünen Jugend, aber er offenbar schon? Was ist da bloß passiert? Lässt er ja offen? Ich meine man kann damit alles mögliche assoziieren:
- Hasch-Lebkuchen,
- Glühwein,
- Biotee,
- handgestrickte müffelnde Wollpullover,
- unangekündigter Gruppensex,
- Topfschlagen,
- Kerzen und Räuchermännchen
- Knäckebrot trockene, weil abgehobene Diskussionen über soziale Gerechtigkeit,
- Claudia Roth im Weihnachtssweater?
- ein 35 jähriger Juso, der noch bei seiner Mutter lebt, möchte mich mit Martin Schulz bekannt machen
Das wären meine Assoziationen. Wo um Himmels willen gibt es denn sowas in der Christmette?
Ich google panisch Ulf Poschardt. Google schlägt mir vor: Ulf Poschardt, ..Frau, ..Ehefrau, ..Welt, ..Freundin, ..FDP, ..Kontakt, ..Facebook, ..Jamaika.
Ich will das alles gar nicht wissen. Mich interessiert nur, wo er in der Christmette war verdammt. Der Rest ist mir bekannt: Ulf Poschardt ist ein Berufsprovozierer. Er ist Chefredakteur einer großen überregionalen, konservativen Tageszeitung, er hat die Macht, Menschen zu erreichen, Spaß daran, unerhörte Dinge zu sagen. Und er besitzt einen Porsche. Und Erfolg. Und eine bessere Rechtschreibung. Natürlich. Und er geht in die Kirche.
Das ist die eigentliche breaking news.
Ulf P., Porschefahrer, muss mit Mutti in die Christmette.
Wie wir auf Provokationen im Netz reagieren (könnten)
Wahnsinn. In seinem Profil ist nach dem Christmetten-Tweet noch mehr los als sonst.
Natürlich kann man rein theoretisch sagen was man will. Wir leben in einem Land in dem die freie Meinungsäußerung ein hohes Gut ist. Brauchen wir rege Diskussionen? Natürlich! Immer.
Selbst an Weihnachten kann man keine künstliche Idylle erzeugen, und sich Zustände schön trinken.
Aber: alles was wir sagen, bringt einen Ton in die Welt. Selbst eine geschickt verpackte Herabsetzung braucht keiner. Das ist auch keine Kritik an bestehenden Verhältnissen.
Und die Wahrheit? Brauchen wir nicht alle die nackte Wahrheit. Gerade jetzt?
Ich muss Ulf Poschardt nicht nackt sehen.
Sorry.
Bringt mir nichts. Dem Universum übrigens auch nicht.
Kann man trotzdem alles machen, wenn man Bock drauf hat, weil wir leben in der freien Welt?
Ja lasst es raus. Zuhause unterm Tannenbaum. In der Christmette? Eher nicht. Es sei denn man ist der kleine Jesus beim Krippenspiel. Sonst hält man sich wenigstens einen Abend mal zurück, es sei denn man ist ins Weihrauchfass gefallen in der Sakristei, dann ist man unzurechnungsfähig, aber immerhin lustig?
Mit Familie P. in der Christmette
An diesem Abend in der Christmette z.B: rollt Ulf P. während der Predigt melodramatisch mit den Augen, guckt er aufs Smartphone, streicht sich die Haare nervös zurecht.
Warum sagt niemand: STECK DAS DING WEG UL(L)I. Wenn mein Kind in der Christmette am Smartphone spielt, verwandeln sich meine Netzhäute in Laser.
Wahrscheinlich beachtet ihn niemand? Alle mit sich beschäftigt, oder suchen Kleingeld für den Klingelbeutel. Kommt vor. Vor allem in Familien meiner Generation.
Ist das der Grund, warum wir alle so reich beschenkt werden von ihm?
Nicht nur an Weihnachten?
Diese Frage kann ich nicht beantworten, ich war ja noch nie mit Ulf und seiner Mutti in der Christmette, aber ich kann bei mir bleiben, und eine Entscheidung treffen:
Ich mach das Smartphone aus, und stopfe mich mit Ragout fin voll = ich leiste meinen Beitrag für das Gute in der Welt
“Do not let the behavior of others destroy your inner peace.” – Dalai Lama
PS: Kennt jemand die Gemeinde von Ulfs Mutter? Er möchte gern ein Drittel seines Jahresgehaltes spenden (für Weihrauch).
Kommentare von Notyetaguru
Ein Wochenende in Worten:
Danke Falk!
Ein Wochenende in Worten:
Bitte meine Liebe und ich danke für Deine Worte!
Working Moms nerven? Warum Deutschland ein Problem hat und ich keinen Bock mehr!
Welche Ehre vielen Dank!
Blüten-Hanami in Prenzlauer Berg: Die drei schönsten Strassen im Frühling
Guten Morgen, also das ist schwierig, weil aufgrund der globalen ...
Wertschätzende Wut: Menschen und Manieren
ja liebe Steffi davon hab ich gehört, ich bin ein ...