rein theoretisch ist alles gut

Tag der Einheit

Es ist 15:34 Uhr am Tag der Einheit. Ich bin zurück – nicht von irgendwelchen Feierlichkeiten, sondern von meinem ersten Einsatz für eine Initiative, die Wochenendbetreuung für Flüchtlinge aus einer Notunterkunft organisiert. Es war mir eine große Freude mitzumachen, und ich nehme viele Eindrücke mit von diesem Ort.

Heute Morgen um 10 Uhr stand ich schräg gegenüber einer Neuköllner Sporthalle. Ich hatte ein leicht mulmiges Gefühl im Magen und lauwarmen Kaffee in der Hand. Gerade waren zwei Polizeiautos mit Blaulicht an mir vorbeigefahren. Mein Gehirn funkte sofort ein fettes Vorurteils-SOS und ich blieb ängstlich stehen: “Oh Gott die prügeln sich? Hat da nicht was in der Zeitung gestanden?” Ich wollte am liebsten kneifen! Diese Gegend war nicht gerade pittoresk – und Neukölln ist sowieso zu viel für mich. Schon auf der Hinfahrt mit der U-Bahn kam ich an meine Grenze: Torkelnde Nachtschwärmer, Junkies, Hipster, Dealer, Touristen und Penner kuschelten sich schutzsuchend an meinen beigen Alpaka-Strickmantel. Das Blaulicht war ein regelrechter Hoffnungsschimmer. Ich hatte Angst vor meiner eigenen Courage. Worauf hatte ich mich da eingelassen?

Es gab leider keinen Grund zur Gutmensch-Flucht. Es war offensichtlich nichts passiert: Die Polizeiautos fuhren weiter. Nun ja, dachte ich, gibt ja genug andere Orte in Neukölln wo man Blaulicht braucht. Genau: Warum kann diese Notunterkunft nicht in der Nähe vom Rosenthaler Platz liegen verdammte Axt? Vor der Halle warteten schon die zwei Helfer auf mich, mit denen ich gleich Menschen von der Notunterkunft zur Wochenendbetreuung bringen sollte. Ich wurde sehr herzlich begrüßt und in Ihr eingespieltes Team integriert. Wieder kein Grund abzuhauen. Nochmal verdammt. Ich musste das anscheinend wirklich durchziehen. Ich erfuhr in einem kurzen Gespräch, worauf ich achten sollte. Zum Beispiel wie viele Menschen wir maximal aus der Halle zur Wochenendbetreuung in Kreuzberg mitnehmen konnten. Dann kam der große Moment. Wir gingen hinein in die Sporthalle.

Vorbei an Security Männern traten wir in die große Halle. Und plötzlich war ich mitten drin in der großen globalen Herausforderung unserer Zeit. Feldbetten standen dicht an dicht – viele Männer schliefen noch. Ich blickte erstmal zum Boden. Ich musste mich sammeln und ich wollte zeigen, dass mir sehr wohl bewusst ist, dass ich gerade ungefragt durch 200 Schlafzimmer latsche. Während ich am Rand der Halle entlang lief, realisierte ich augenblicklich, dass meine Probleme eigentlich ein Mückenschiss sind – verglichen mit dem was die meisten hier durchgemacht haben. Manche Männer begrüßten uns, viele schauten neugierig und lächelten – andere wichen unseren Blicken aus. Eine völlig normale Reaktion: Wie gesagt liefen wir gerade durch 200 fremde Schlafzimmer. Mir schoss dieses Zitat von Thomas de Maizière durch den Kopf, der fassungslos beklagte: (…) “Sie streiken, weil ihnen die Unterkunft nicht gefällt, sie machen Ärger, weil ihnen das Essen nicht gefällt”. Vielleicht sollte ich den mal von den offiziellen Feierlichkeiten zur Einheit kurz hierher bitte?

Wie muss es für die Menschen sein dauerhaft in so einer angeordneten, respektlosen Nähe zu leben? Ohne Perspektive – nach endlosen Wochen der Aktivität, der Flucht durch viele Länder, ist man jetzt zum Warten und Nichtstun verdammt. Eingeschlossen in einer Sporthalle und in völliger Unsicherheit auf das was kommt. Ohne Beschäftigung oder Rückzugsmöglichkeit. Ich finde es ehrlich gesagt sehr erstaunlich, dass so wenig passiert. Wenig später treffe ich eine Familie, die seit 4 Monaten in dieser Halle lebt (4 ! Monate). Diese Menschen für Wochen und Monate warten zu lassen ist der falsche Weg: Integration beginnt nicht erst mit einer verdammten Nummer im LaGeSo, sondern sehr viel früher. Mit den Menschen kommen auch ihre Probleme zu uns – natürlich:  Viele haben Schlimmes durchgemacht und Gewalt erfahren. Einige Männer waren im Krieg. Mit diesen Krisenmanagement und dem Festhalten an eingeübten Prozessen, verschlimmern wir ihre Situation und Traumata. Unser System ist damit überfordert.

Der nahe Osten explodiert und zwar nicht erst seit gestern, dazu kommen viele andere Brennpunkte auf der Welt! Millionen sind weltweit auf der Flucht. Einige schaffen es bis zu uns in die Festung Europa. Sie brauchen zuallererst ein Dach über dem Kopf natürlich – aber sie brauchen auch dringend Ihre Würde und genügend Ansprechpartner für ihre Probleme. Nach meinem Besuch in der Sporthalle kann ich sehr wohl verstehen, dass jemand freiwillig eine Notunterkunft verlässt. Allerdings tut er es nicht weil er enttäuscht ist, dass es dort keine angesagten Turnschuhe in seiner Größe gibt. Vielleicht gab es wirklich so einen Vorfall – ok. Ich verstehe aber, dass man lieber barfuß im Freien bleibt, statt in dieser ungeschützten Situation! Für Frauen und Kinder ist es ganz besonders schlimm:

In der Mehrheit leben junge Männer in den Notunterkünften – so auch in dieser Sporthalle. Allein durch diese Unverhältnismäßigkeit fühlt man sich als Frau eingeschüchtert und unwohl. Selbst mir ging das so. Obwohl mich niemand respektlos behandelt hat und ich immerhin schlappe 1,80 groß bin. Es herrscht eine angespannte Atmosphäre, das spürst Du mit jedem Schritt, den du machst. Der Bereich für die Familien und alleinstehende Frauen wurde wohl seit dieser Woche räumlich etwas besser abgetrennt.

Im hinteren Hallenbereich haben sich die Menschen aus zusammengeschobenen Sportgeräten kleine Wohn-Abteile geschaffen. Es sieht aus wie eine Zeltstadt ohne Dach. Viele hier waren schon einmal bei der Wochenendbetreuung, sie freuen sich uns zu sehen. Mir fällt dabei eine albanische Familie besonders auf: Die Mutter ist sehr niedergeschlagen, der vierzehnjährige Sohn ist still und blass. Als ich in seine Augen sehe, weiß ich, warum ich Samstagmorgens um 10 Uhr genau jetzt an diesem Ort sein muss und meine Bedenken (komme ich mit dieser Situation klar) sind verschwunden. Als ich ihn später beim Essen frage, was er am liebsten macht leuchtet sein Gesicht kurz auf: Er hat in Albanien Fußball im Verein gespielt. Jetzt macht er seit 4 Monaten nichts – außer ängstlich auf seiner Matratze zu liegen (erzählte mir seine Mutter, weil er zu groß ist für die Kinder und zu jung für die anderen Männer) Seine Überlebensstrategie ist es, sich unsichtbar zu machen. Er hat immer noch keinen Platz in einer Schule bekommen, obwohl die Eltern bis nächsten September eine Aufenthaltsgenehmigung haben. Wer Kontakt zu Schulen hat oder einen Fußballverein kennt, wo er trainieren kann, möge sich bitte bei mir melden! Der Junge muss unter Gleichaltrige!

Dann hat mich noch eine hochschwangere Frau aus dem Irak beeindruckt. Wir hatten erst den Mann angesprochen, der war nicht ganz so überzeugt. Seine tatkräftige Frau kam dann kurzerhand mit den zwei Jungs (5 und 9) alleine mit. Sie mußte sich dafür übrigens nicht besonders durchsetzen. Der Vater blieb einfach in der Notunterkunft. Wahnsinn was die Frau für eine Power hatte noch dazu im letzten Schwangerschaftstrimester! Ich hatte wirklich Angst, dass sie Ihr Kind unterwegs bekommt, aber sie hielt tapfer durch. Als wir bei der Wochenendbetreuung ankamen, flippte sie vor Freude aus, als sie die große Küche sah. Sie erzählte mir aufgeregt, wie sehr sie ihre Küche vermisst, und dass sie dringend wieder was zu tun braucht. Ich war sehr erstaunt schließlich hatte sie zwei agile Jungs, um die sie sich kümmerte. Ist ja auch schon was, dachte ich leicht verwundert. Wie viel Energie sie sonst noch hat, zeigte sich wenig später.

Nach dem Essen räumte die Powerfrau aus dem Irak zusammen mit einem Mädchen aus Albanien die Küche auf. Ich wurde verscheucht. Innerhalb von 20 Minuten haben beide so was von Klarschiff gemacht, dass ich mich nachträglich noch geschämt habe. Ich hatte am Morgen 45 Minuten Zeit für zwei Teller und Tassen und meine Küche sah nicht so aus – ehrlich gesagt sah meine Küche noch nie so aus (auch diese Küche hätte nicht so ausgesehen, wenn ich sie aufgeräumt hätte). Während ich staunend zusah, wurde mir klar, wie viel Autonomie und Selbstbewusstsein es diesen Frauen zurückgäbe, wenn sie selbst für sich sorgen und kochen könnten. Inwieweit das in dieser Wochenendbetreuung ginge, wußte ich nicht. Aber ich war fest entschlossen das nach meinem Einsatz anzusprechen. Um 14 Uhr ging meine Schicht zu Ende, ich verabschiedete mich und lief Richtung U-Bahn. Leider hatte ich bei meinen ganzen Einsatz vergessen was zu essen. Ich war total hungrig und hatte nur noch 2,50 EUR im Geldbeutel. In meinem polierten Kiez, käme ich damit nicht weit, hier allerdings schon:

Ich bekam für EUR 2,50 ein Super Falafel Sandwich. Dazu gab es noch einen heißen Tee – ungefragt und umsonst. Wann und wo würde mir das in meinem Schnösel-Kiez passieren? Und dann passierte noch etwas: Ich aß mein Falafel Sandwich mitten im prallen Leben, einfach so am Görlitzer Bahnhof! Was um mich herum passierte machte mir plötzlich gar nichts mehr aus. Die letzten Stunden hatten mich irgendwie abgehärtet? Vielleicht komme ich aber auch mit menschlichen Schicksalen und der Not anderer besser klar als gedacht. Ich muss mich nur raus trauen aus meinem polierten Mitte-Schneckenhaus. Während ich das denke, erreicht mich ein, sagen wir, nicht ganz blumiger Duft. Ein Mann kommt auf mich zu. Ich suche leicht panisch mein japanisches Heilpflanzenöl in der Handtasche – und tupfe mir prophylaktisch zwei Tropfen davon direkt unter die Nase, dann beame ich mich gedanklich in mein Wohnzimmer. Der Mann lächelt mich an, ich lächele kurz zurück aus meinem polierten Schneckenhaus.

Ich möchte an dieser Stelle an alle bislang passiven Gutmenschen unter meinen Lesern appellieren:

Gebt Euch einen Ruck und engagiert Euch. Es ist toll was einzelne Berliner auf die Beine gestellt haben. Bringt euch ein und unterstützt sie. All diese kleinen, feinen Projekt sollten weiterlaufen. Die Politik und die Berliner Verwaltung sind zu schwer fällig, um auf diese Not reagieren zu können. Habt keine Scheu vor den Begegnungen mit den Menschen – sie sind eine Bereicherung.

Soweit meine Eindrücke. Wer sich für die Wochenendbetreuung interessiert, der kann mir an dieser Stelle einen Kommentar hinterlassen oder sonst wie mit mir in Kontakt treten. Das gilt genauso für Menschen, die sich engagieren und ihre Projekte hier vorstellen wollen. Nutzt die Kommentarfunktion.

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